Eine Klage mit Erfolg

Die polnische Care-Migrantin Agata J. hat sich gegen ihren Arbeitgeber gewehrt und mit Unterstützung der Gewerkschaft vpod region basel eine Klage vor Gericht eingeleitet – mit Erfolg. In der 24-Stunden-Betreuung am Arbeitsplatz Privathaushalt liegt zum ersten mal ein Urteil des basel-städtischen Zivilgerichts vor, bei dem die Präsenzzeit entschädigt werden muss. Agata J. erhält für eine dreimonatige Arbeitszeit eine Nachzahlung von 17’000 Franken. „Dieses Urteil ist ein grosser Erfolg für die gesamte Branche der 24-Stunden-Betreuung“, sagt Bożena Domańska vom Care-Migrantinnen Netzwerk Respekt@vpod. CareInfo hat mit vpod Gewerkschaftssekretärin Marianne Meyer gesprochen.

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Marianne Meyer
Gewerkschaftssekretärin vpod region basel
www.respekt-vpod.ch


«Präsenzzeit ist nicht mehr Gratisarbeit»

Marianne Meyer, was waren die Hintergründe dieser Lohnklage?

Frau J. hat für eine private Spitexfirma gearbeitet und in einem Privathaushalt 24-Stunden-Betreuung gemacht. Ihr Vertrag hielt eine 42-Stunden-Woche fest und entsprechend wurde sie auch entlöhnt. Frau J. arbeitete aber in Wahrheit nicht 8,4 Stunden am Tag von Montag bis Freitag, sondern auch in den Nächten und am Wochenende. Der betreute ältere Mann fand es auch nicht richtig, dass Frau J. nur 42 Stunden in der Woche bezahlt erhielt, obschon sie rund um die Uhr präsent war. Er ermutigte sie, sich zu wehren und war bereit, sie direkt anzustellen. Der Pflegebedürftige ist aber kurz darauf gestorben und das Arbeitsverhältnis wurde beendet. Frau J. hat dann beschlossen, eine Lohnklage gegen ihren Arbeitgeber zu machen.

Das Gericht hat zu Gunsten von Frau J. entschieden. Was sind die Folgen des Urteils?

Eigentlich gilt das Arbeitsgesetz im Privathaushalt nicht. Weil im Fall von Frau J. eine Firma Arbeitgeberin war, die über die Beschäftigung von Frau J. im Privathaushalt einen Gewinn erwirtschaftet, gilt das Arbeitsgesetz. Das hat das Gericht entschieden. Und das ist die Bedeutung dieses Urteils: dass das Arbeitsgesetz am Arbeitsplatz Privathaushalt greift. Das heisst, die ganze Arbeitszeit muss entschädigt werden, auch die Zeit, in der die Arbeitnehmerin sich dem Arbeitgeber zur Verfügung stellt – also auch die Präsenzzeit.

Wie wird Frau J. entschädigt?

Das Arbeitsgesetz sagt nicht, mit welchem Stundenlohn der Arbeitgeber die Präsenzzeit entschädigen muss. Die Lohnhöhe für die Arbeit auf Abruf wird aufgrund der Pflegebedürftigkeit der betreuten Person erwogen, das heisst, je dringlicher die Betreuung bei einer Person, desto höher die Entschädigung. Das Gericht hat für den Fall von Frau J. entschieden, dass die Klägerin eine Nachzahlung von 17’000 CHF bekommt. Das ist schön.

Was heisst dieses Urteil für die gesamte Branche der 24-Stunden-Betreuung?

Die Höhe der Bezahlung der Präsenzzeit muss von Fall zu Fall durchgespielt werden. Dieses Urteil ist aber ein wichtiger Durchbruch, denn zum ersten Mal hat sich ein Gericht der Frage der Präsenzzeit im Fall von der 24-Stunden-Betreuung gewidmet und geschaut, wie diese Zeit entschädigt werden muss. Die Arbeit in der 24-Stunden-Betreuung hat endlich einen Wert erhalten. Präsenzzeit ist nicht mehr Gratisarbeit. Das Urteil bedeutet auch, dass der Profit der gewinnorientierten Firmen schrumpft. Die haben ja eine riesige Gewinnmarge. Wenn sie von den Klienten 8’000 bis 14’000 CHF pro Monat verlangen und den Frauen monatlich zwischen 1’000 und 4’000 CHF zahlen, haben sie eine riesige Gewinnmarge – auf Kosten der Frauen. Diese wird jetzt kleiner.

Der vpod Region Basel hat 2013 zusammen mit Care-Migrantinnen das erste gewerkschaftliche Care-Migrantinnen Netzwerk Respekt@vpod gegründet. Die Frauen treffen sich einmal im Monat am Sonntag. Was sind die Ziele des Netzwerks?
Mit dem Netzwerk Respekt@vpod empowern wir die Frauen, sich selber zu wehren. Dazu gehört, sie über ihre Rechte in der Schweiz zu schulen. Ein Thema an den Sonntagstreffen ist deshalb auch immer ein Schulungsthema, z.B. zu Aufenthaltsstatus, Arbeitslosenversicherungen etc. Und ich merke, wie viele Frauen jetzt schon ein grosses Wissen haben, welches sie dann auch an ihre Kolleginnen weitergeben – und das ist toll. Weiter unterstützen wir die Frauen darin, z.B. den Pflegehelferinnenkurs des SRK zu besuchen, um bessere Arbeit zu finden, z.B. im Alterspflegeheim. Wir unterstützen sie also dabei, eine Arbeit zu finden, bei der sie nach einem Monat nicht völlig ausgepowert sind, ein regelmässiges Einkommen haben und bei der sie sich hier eine Mietwohnung leisten und ihr Leben finanzieren können. Klar, die Frauen, die sich nicht hier niederlassen wollen, denen kommt das Modell der 24-Stunden-Betreuung entgegen. So können sie ihr Standbein in ihrer Heimat aufrechterhalten. Diese Frauen beraten und unterstützen wir, so dass sie einen fairen Lohn bekommen, wie das Beispiel von Frau J. zeigt.

Was unternimmt der vpod als nächstes?

Mit dem Aufruf „Wir sind alle Agata!“ ermutigen wir die Care-Migrantinnen, weitere Lohnklagen einzureichen. Mehrere Lohnklagen werden derzeit vorbereitet, weitere werden folgen. Auch werden wir die kantonalen Ämter für Wirtschaft und Arbeit auffordern, Kontrollen bei den Firmen zu machen, die 24-Stunden-Betreuung anbieten. Sie sollen offenlegen, wie viele 24-Stunden-Arbeitsverhältnisse sie haben und wie die Angestellten entschädigt werden. Aber auch bei der Von-Haus-zu-Haus-Betreuung herrschen bei den gewinnorientierten Spitexfirmen prekärste Arbeitsbedingungen: Die Betreuerinnen arbeiten auf Abruf. Das Risiko wegfallender Kunden wird gesetzeswidrig voll auf die Angestellten abgewälzt. Sie arbeiten häufig bei mehreren Arbeitgebern, um Ende Monat ihre Miete bezahlen zu können. Sie sind von morgens früh bis abends spät unterwegs für einen Hungerlohn. Die oft weiten Wege zwischen den Kunden und die Fahrspesen werden in der Regel nicht bezahlt. Es werden nicht einmal die Bestimmungen des Obligationenrechts eingehalten. Wir fordern die Kantone und Gemeinden auf, bei der Vergabe von Leistungsaufträgen nur Firmen zu berücksichtigen mit guten Arbeitsbedingungen.

Interview: Jasmine Truong

Respekt@vpod

Das Netzwerk RESPEKT@vpod ist eine Bewegung, die von Care-Migrantinnen selbst ausgeht. Sie treffen sich einmal im Monat am Sonntag in Basel, tauschen sich aus, lernen Deutsch und diskutieren über Rechte, die ihnen als Care-Arbeiterinnen zustehen. Das Netzwerk zählt heute über 50 Mitglieder, hauptsächlich aus Polen, vereinzelt auch aus der Slowakei, aus Ungarn und Rumänien.

 



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