Eine Stimme der Spitex

Die Geschäftsleiterin der SPITEX St. Gallen-Ost berichtet über Begegnungen mit Care-Migrantinnen. In diesem Zusammenhang äussert sie sich zur öffentlichen Finanzierung der ambulanten Pflege und Betreuung in der Schweiz. Ein Gespräch mit Andrea Hornstein.

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Andrea Hornstein
Dipl. Pflegefachfrau HF
Geschäftsleiterin SPITEX St.Gallen-Ost
befasst sich seit 2007 mit dem Thema der Care-Migration


«Ich bin dagegen, wenn die Spitex zu einer Gesundheitspolizistin wird»

Frau Hornstein, wann sind Sie das erste Mal auf das Thema der Care-Migration aufmerksam geworden?

2007. Da hatten wir schon von einzelnen Fällen gehört. Mich hat es persönlich betroffen, weil ich fand, dass die Entwicklung der Care-Migration nicht der richtige Schritt war betreffend der Geschlechtergleichstellung. Es ist doch eine falsch verstandene Gleichstellung, wenn hiesige Frauen zwar in der Erwerbsarbeit tätig sind, aber die Haus- und Care-Arbeit nicht zwischen Mann und Frau neuverteilt, sondern an Migrantinnen weiterdelegiert wird, die wirtschaftlich schwächer gestellt sind. Das hat mich dazu veranlasst, mich für diese Situation einzusetzen.

Können Sie sich an die erste persönliche Begegnung mit einer Care-Migrantin erinnern?

Ja, daran kann ich mich sehr gut erinnern. Das war vor ungefähr sieben Jahren in einem Haushalt mit einem älteren Ehepaar. Wir haben sie in der Pflege unterstützt und medikamentös versorgt. Sie hatten auch Unterstützung im Haushalt. Die Frau war sehr dement, der Mann wurde zunehmend dement. Deshalb ging das mit der Zeit auch nicht mehr, dass sie zu zweit alleine zu Hause sind. Der Sohn wollte den Eltern ermöglichen, zu Hause zu bleiben und hat durch eine Agentur Care-Migrantinnen angestellt: zwei Frauen aus Polen, die sich alle zwei bis drei Monate abgewechselt haben. Sie sprachen beide kein Deutsch und konnten nur etwa vier Wörter sagen: Mama, Papa, Essen und Schlafen. Ich habe gemerkt, dass Abmachungen zwischen dem Sohn und den Care-Migrantinnen oft unklar waren. Die betagte Frau hatte einen verkehrten Tag-Nacht-Rhythmus und war in der Nacht aktiv. Er brauchte am Tag Betreuung. Die Care-Migrantin war 24 Stunden im Dienst, das heisst immer auf Standby. Wir haben beobachtet, wie es den Care-Migrantinnen nach einem halben Jahr gesundheitlich schlechter gegangen ist. Sie waren bleich, psychisch angeschlagen und kamen mit der Situation überhaupt nicht klar.

Wie haben Sie auf diese Situation reagiert?

Wir kamen gezwungenermassen in ein Controlling rein, obwohl wir keinen Auftrag für Personalführung der Care-Migrantinnen haben. Aber wir mussten ja mit ihnen zusammenarbeiten und die Arbeit koordinieren. Wir haben sie auch angeleitet bei ihrer Arbeit. Von der Agentur hatten sie überhaupt keine Einführung, auch keine Betreuung, nichts. Schliesslich ging es um das betagte Ehepaar. Da kann man nicht einfach wegschauen. Für uns stellte sich intern immer die Frage als Organisation: Inwiefern können wir unseren Auftrag erfüllen im Wissen, dass wir uns auch in einem Graumarkt mitbewegen und mitverantwortlich sind. Wir bieten einen 24h-Pikettdienst an, schauen, dass die Patientinnen und Patienten medikamentös versorgt sind und die Pflege gewährleistet ist. Wir arbeiten mit dem Hausarzt zusammen etc. Das alles hat es ermöglicht, dass das Ehepaar zu Hause bleiben konnte. Nur mit der Care-Migrantin alleine wäre das nicht gegangen. Sie hätte das alles nicht machen können, denn sie war pflegerisch überhaupt nicht ausgebildet. Für uns war klar, wenn wir unseren Teil nicht abgedeckt hätten, wäre das Ehepaar von Beginn weg in ein Altersheim gegangen.

Wie reagiert die Spitex auf die steigende Nachfrage nach einer 24h-Betreuung?

Wir haben gemerkt, dass eine Rundum-Betreuung ein Bedürfnis geworden ist. Seit 3 Jahren gibt es in der Stadt St.Gallen eine Nachtspitex. Das ist ein Angebot, das den Leuten eher ermöglicht, zu Hause zu bleiben. Je professioneller die lokale Spitex ist mit einem breiten Angebot, desto weniger braucht es den Betreuungsmarkt. Aber eben, eine Rundum-Betreuung decken wir als öffentliche Spitex nicht ab.

Konkurrenziert der 24h-Betreuungsmarkt die Spitex?
Für uns stellt der Markt kaum eine Konkurrenz dar. Zum Teil waren wir ja trotz Care-Migrantin noch in diesen Haushalten drin und haben die professionelle Pflegearbeit übernommen. Vielleicht hat die Nachfrage nach Hauswirtschafts-Angeboten der Spitex abgenommen. Doch je grösser der Anteil der Pflegekosten, welcher auf die Patientinnen und Patienten überwälzt wird, je mehr wird der Betreuungsmarkt florieren.

Allgemein nehmen spezialisierte Dienstleistungen zu: Es gibt den Mahlzeitendienst, Fahrdienst, die Pediküre, Ergotherapeutinnen, Hausärzte, Tagesstätte etc. Ist ein demenzerkrankter Mensch nicht überfordert mit der Konfrontation von so vielen verschiedenen Personen?

Gerade bei komplexen und schwierigen Pflegesituationen ist es wichtig, dass die Pflege professionell erfolgt und auf unterschiedliche Institutionen abgestützt ist. Wenn jemand aussteigt, zerfällt nicht gleich das ganze Pflege- und Betreuungssystem. Insgesamt finde ich die Zusammenarbeit mit Spezialistinnen und Spezialisten gut – alles was ambulant zu Hause gemacht werden kann, soll so gemacht werden. Schliesslich sage ich immer, die Betagten leben manchmal so isoliert, vielen tut der Wechsel auch gut. Wir haben nie bemerkt, dass die Pflegequalität leidet, weil das Personal wechselt!

Sie finden es also nicht zumutbar, dass eine Person in einem 24h-Betreuungsarrangement arbeitet.
Sie können sich nicht mehr abgrenzen. Care-Migrantinnen werden automatisch zu einem Familienmitglied. Das macht die emotionale Abhängigkeit so schwierig. Man kommt den Leuten so nahe, die Abgrenzung von Arbeit- und Privatsphäre verschmilzt immer mehr ineinander rein. Das sind ungesunde Verhältnisse. Hier möchte ich auch klar erwähnen: eine 24h-Anstellungen ist in der Schweiz arbeitsrechtlich nicht erlaubt.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der 24h-Betreuung durch Care-Migrantinnen in der Schweiz?

Ich bin dagegen, wenn die Spitex zu einer Gesundheitspolizistin wird und die Kontrolle der Arbeitsbedingungen von Care-Migrantinnen oder Betreuungsbedingungen von Pflegebedürftigen übernimmt. Ich finde, wir müssen uns überlegen, wie wir die kassenpflichtigen wie auch die nicht-kassenpflichtigen Spitex-Pflegeleistungen wieder besser durch die öffentliche Hand finanzieren können. Bei der Mehrheit der europäischen Staaten fallen 30% der öffentlichen Ausgaben für die Langzeitpflege bei der Spitex an. In der Schweiz beträgt dieser Anteil nur ca. 14%. Es muss öffentlich thematisiert werden, wie viel uns die Pflege und Betreuung wert ist. Politisch gilt das Prinzip “ambulant vor stationär“, aber finanziell kommt eine stationäre Behandlung für die Betroffenen immer noch günstiger. Die Anreize sind heute falsch gesetzt. Logisch rechnet man sich dann aus, wie viel eine Polin kostet, wenn man trotzdem zu Hause bleiben möchte. Dies können sich aber nur diejenigen leisten, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen. Ich finde, dass wir uns arbeitsrechtlich für die Care-Migrantinnen einsetzen sollen, aber wir müssen auch genau hinschauen, dass die ambulante Pflege und Betreuung nicht immer disqualifiziert und schlechter finanziert wird. Es braucht mehr Investitionen in die Ausbildung und in das Berufsbild, damit wir ein positives Berufsbild entwickeln mit guten Arbeitsbedingungen. So können wir in der Schweiz selber genügend Leute in die Pflege rekrutieren.

Interview: Jasmine Truong



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