Bundesgerichtsurteil: Für Angestellte von Betreuungsagenturen gilt das Arbeitsgesetz

Am 22. Dezember 2021 fällte das Bundesgericht einen Leitentscheid (2C 470/2020) zur sogenannten 24-Stunden-Betreuung. Klägerin war die Gewerkschaft vpod. Gewerkschaftssekretärin Vanessa von Bothmer erläutert, wie es zur Klage kam. Rechtsprofessor Kurt Pärli kommentiert das Urteil und zeigt die Folgen daraus auf.

 

 

Vanessa von Bothmer,
Rechtsberaterin vpod region basel

In der Schweiz nehmen 24-Stunden-Betreuungen in den eigenen vier Wände stetig zu. Es gibt in dieser Arbeitsbranche zwei gängige Modelle: Die Personen werden direkt von einer Familie angestellt oder über eine Verleih-Firma (private Spitex). Der vpod bildete 2013 das Netzwerk Respekt, welches sich mit dieser Thematik auseinandersetzt und eine Regulierung des Anstellungsverhältnisses fordert.

Seit Beginn dieser Betreuungsform vertritt der vpod die Meinung, dass eine Person allein nicht für 24 Stunden, sieben Tage die Woche zuständig sein kann und darf. Das Arbeitsverhältnis von 24-Stunden-Betreuer:innen, die über eine Firma in Privathaushalten arbeiten, war bis zu diesem Bundesgerichtsurteil nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt – anders als in anderen Bereichen der Leiharbeit. Das bedeutet, dass die arbeitsrechtliche Einhaltung der Anstellungsbedingungen nicht überprüft werden konnten.
Der VPOD schlug verschiedene Massnahmen vor, auch im Rahmen der kantonalen Vernehmlassungen zur Normalarbeitsvertragsüberarbeitung. (siehe CareInfo-Newsbeitrag vom 21.11.2019) Dies leider mit nur geringem Erfolg. Viele Punkte wurden nicht aufgenommen und eine griffige Regulierung blieb aus.

Der vpod region basel versuchte gemeinsam mit dem Amt für Wirtschaft und Arbeit Basel-Stadt (AWA) eine Lösung für die Situation zu erarbeiten. Während der vpod region basel die Meinung vertrat, dass diese Form der Arbeitsverhältnisse über eine Verleihfirma dem Arbeitsgesetz unterstellt werden muss, hat das AWA dieser Rechtsansicht bisher widersprochen.

Dies war der Anlass für den vpod region basel mit einer Beschwerde vor Gericht zu gehen. Diese wurde bis vor das Bundesgericht gezogen, um die Frage nachhaltig zu klären.

Der VPOD ist sehr erfreut über das Urteil: Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des vpod region basel gegen den Kanton Basel-Stadt gut und stellt fest, dass auch im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung das Arbeitsgesetz gilt.
Nun fordert der VPOD weitere Schritte zur Umsetzung des Urteils:

  • Alle Betreuer:innen in Privathaushalten sind dem Arbeitsgesetz zu unterstellen.
  • Die 24-Stunden-Betreuung durch nur eine Person ist zu verbieten.
  • Die Arbeitszeit muss erfasst werden.
  • Die Einhaltung des Arbeitsgesetzes muss in Privathaushalten und in Personalverleihagenturen durch die Kantone kontrolliert werden.

 


Prof. Dr. iur. Kurt Pärli
,
Professor an der juristischen Fakultät der Universität Basel

Das Bundesgerichtsurteil hat klargestellt, dass die Ausnahmebestimmung im Arbeitsgesetz für private Haushalte nicht anwendbar ist, wenn eine Betreuerin zwar bei der zu betreuenden Person zu Hause tätig ist, den Arbeitsvertrag aber mit einer Betreuungsorganisation abgeschlossen hat.

Die Behörden müssen nun die Einhaltung des Arbeitsgesetzes kontrollieren und betroffene Arbeitnehmende können ihre Ansprüche vor Gericht durchsetzen.

Das Verfahren und das Urteil des Bundesgerichts zeigen die Notwendigkeit und den Nutzen der Verbandsbeschwerde. Prekär beschäftigte Arbeitnehmende machen aus Angst vor Arbeitsplatzverlust meist nicht von ihren Rechten Gebrauch. Das Arbeitsgesetz sieht ein Recht der Verbände vor, eine Feststellungsverfügung über die Anwendbarkeit des Arbeitsgesetzes zu verlangen. Die entsprechende Verfügung kann bis ans Bundesgericht weitergezogen werden, was vorliegend auch der Fall war.

Das Bundesgericht hält fest: Kontrollen der Einhaltung des Arbeitsgesetzes bei der Betreuungsorganisation wären ohne Weiteres möglich. Ein von den Vorinstanzen behaupteter Konflikt zum Schutz der Privatsphäre bestehe nicht. Zu Recht weist das Bundesgericht auch darauf hin, dass Ausnahmebestimmungen zur Anwendbarkeit des Arbeitsgesetzes eng auszulegen sind. Die Nichtanwendbarkeit des Arbeitsgesetzes liesse sich vor allem auch deshalb nicht rechtfertigen, weil die Betreuungsorganisation von der angebotenen Dienstleistung wirtschaftlich profitieren würden. Auch wenn dies in den Ausführungen des Bundesgerichtes nicht überall deutlich zum Ausdruck kommt, kann das Urteil doch klar als Bekenntnis des höchsten Gerichts zur effektiven Durchsetzung des Arbeitnehmendenschutzes bei der professionellen und profitorientierten «Care-Arbeit» verstanden werden.

Bei Direktanstellungen der Betreuerinnen durch die zu betreuende Person ändert sich jedoch nichts: Das Arbeitsgesetz bleibt in diesem Fall nicht anwendbar. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass in der Praxis vermehrt auf dieses Modell ausgewichen wird. Soweit jedoch auch hier eine professionelle Organisation mitwirkt und trotz anderslautender vertraglicher Abmachung eigentlich Personalverleih (und nicht bloss Personalvermittlung) vorliegt, bleibt das Arbeitsgesetz anwendbar.

Einen ausführlichen Beitrag von Kurt Pärli zur Anwendung des Arbeitsgesetzes in Privathaushalten finden Sie im Jusletter vom 27. Mai 2019.



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