Gericht gibt Care-Migrantin recht

Die Care-Migrantin N. N.* ging im Kanton Solothurn vor Gericht. Sie forderte von ihrer Arbeitgeberin eine Lohnnachzahlung für nicht gewährte Freizeit und Feiertage sowie unbezahlte Nachteinsätze und Präsenzzeit. Ende Januar 2020 erhielt sie vollumfänglich recht. Die Klägerin berichtet.

Frau N., Sie haben zwei Jahre in einem Privathaushalt einer älteren pflegebedürftigen Frau gelebt und gearbeitet. Im Jahr 2017 beschlossen Sie, gegen die Angehörigen zu klagen. Wie kam es dazu?
Ich wohnte zwei Jahre in einem Bürozimmer mit einem Bett. Ich hatte keinen Internetzugang, keinen Zimmerschlüssel und keine Privatsphäre. Ich war sieben Tage die Woche im Einsatz. Ich arbeitete ohne Entschädigung der Feiertage, Überstunden oder Präsenzzeit. In der Nacht hatte ich regelmässig fünf Einsätze. In dieser Zeit hatte ich pro Jahr fünf Wochen Ferien, sonst war ich praktisch rund um die Uhr einsatzbereit. Ach ja, einmal am Tag schaute die Dame eine 50-minütige Serie. In dieser Zeit konnte ich aus dem Haus, Einkäufe erledigen, auf die Post gehen, um Briefe in meine Heimat zu versenden. Ich war am Ende dieses Arbeitsverhältnisses ausgepumpt.

Haben Sie das Gespräch mit Ihrer Arbeitgeberin gesucht? In Ihrem Fall war es die Tochter der pflegebedürftigen Frau.
Ich forderte ein, dass sie sich bei der Gewerkschaft VPOD über ihre Pflichten informiert. Aber das war schwer. Ich hatte grosse Angst, dass sie mich nicht mehr will und mir kündigt. Man ist so schnell ausgewechselt und eine neue Betreuerin übernimmt deine Stelle. Es hiess, ich hätte wenig Arbeit, weil das Haus so klein war. Wenn ich mich widersetzte, wurde ich gemobbt. In diesen zwei Jahren durfte ich einmal für acht Stunden weg. Ich fuhr nach Basel, um andere Berufskolleginnen zu treffen. Das war aber eine Ausnahme.

Vor Gericht forderten Sie eine Lohnnachzahlung von rund 30’000 CHF. Das Gericht gab Ihnen in allen Punkten recht. Wie fühlten Sie sich, als das Urteil bekannt wurde?
Zuerst einmal: Ich war bis zum letzten Atemzug bei der alten Dame. Denn ich hatte ihr versprochen: «Solange Sie leben, bleibe ich bei Ihnen». Dieses Versprechen hielt ich. An dem Abend, als sie starb, öffnete ich das Fenster, damit ihre Seele frei wird. Dann benachrichtigte ich den Arzt und die Familie.
Nach Ende meines Arbeitsverhältnisses wendete ich mich an die Gewerkschaft VPOD. Mit ihrer Unterstützung klagte ich gegen die Angehörigen. Einige Personen sagten zu mir: «Du wirst keinen Rappen kriegen». Aber ich wollte nicht mehr passiv bleiben! Es war kein Vergnügen vor Gericht zu gehen. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich gewinnen würde. Ich bin froh, dass die Arbeitssituation von uns Care-Migrantinnen erkannt wurde.

Was ist Ihr Rat an andere Care-Migrantinnen, die sich in ähnlich schwierigen Arbeitssituationen befinden?
Ich empfehle allen Betreuerinnen die Arbeitsstunden zu protokollieren: Arbeitszeit, Präsenzzeit, Ruhezeit, Ferien, Einsätze in der Nacht, Einsätze an Sonntagen und Feiertagen und so weiter. Ausserdem sollte man bereits zu Beginn des Arbeitsverhältnisses mit der Familie klären, welche Rechte und Pflichten wir und sie haben. Nicht erst am Schluss. Bei schwierigen Situationen kann man sich an die Gewerkschaft wenden. Ich war Mitglied des Netzwerks Respekt@VPOD. Dieses Netzwerk war für mich eine wertvolle Unterstützung.

Interview: Jasmine Truong

*Name der Redaktion bekannt

CareInfo berichtete bereits einmal über einen Fall, in dem eine Care-Migrantin erfolgreich klagte: siehe Eine Klage mit Erfolg vom 16.03.2015.



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