Gute Betreuung im Alter

Die Paul Schiller Stiftung veröffentlichte im März 2018 den Bericht «Gute Betreuung im Alter. Perspektiven für die Schweiz». Er basiert auf einer Studie, die unter der Leitung von Professor Carlo Knöpfel von der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW entstanden ist. Darin wird deutlich, dass die Betreuung – im Gegensatz zur Pflege – weder gesetzlich geregelt noch inhaltlich definiert ist. Stiftungsrätin Maja Nagel Dettling gibt Auskunft zu den Ergebnissen.

 

 

 


Maja Nagel Dettling,
Stiftungsrätin der Paul Schiller Stiftung

Was ist gute Betreuung im Alter?
Qualitätsstandards für eine gute Betreuung im Alter fehlen; es ist ein völlig offener Begriff und rechtlich nicht geregelt. Klar ist: Betreuungsleistungen müssen von den älteren Menschen meist selber bezahlt werden, allfällige Ergänzungsleistungen decken nur einen Teil der Betreuung ab. Betreuung kann im Zusammenhang mit einer beruflichen Verrichtung gesehen oder als eigenständiger Aufgabenbereich definiert werden. Sie erfordert spezifische Kompetenzen wie zum Beispiel agogisches, psychologisches, aktivierendes, spirituelles und therapeutisches Fachwissen. Ausserdem ist Betreuung nicht nur eine Tätigkeit, sondern auch Beziehungsarbeit, die Zeit und Zuwendung beansprucht. Betreuungsleistungen finden beim Wohnen zu Hause und in einer stationären Institution statt – insbesondere in der Alltagsgestaltung, der Unterstützung der Partizipation am gesellschaftlichen Leben und sinnstiftenden Aktivitäten.

In welchem Zusammenhang steht die Care-Migration mit dem Betreuungssystem in der Schweiz?
Demografisch gesehen wird die Schweiz immer älter, gleichzeitig sind immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter. Die meisten älteren Menschen wollen bis ans Lebensende in der eigenen Wohnung bleiben, was die Nachfrage nach individueller Betreuung und Pflege zu Hause erhöht. Dies führt zu einer strukturellen Umverteilung und verschärft den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen.
Gleichzeitig findet ein sozialer, wirtschaftlicher und politischer Wandel statt. Gesellschaftliche Werte und Rollen haben sich verändert: 80% der Frauen sind heute berufstätig, leisten aber trotzdem nach wie vor den Hauptteil der unbezahlten Betreuungsarbeit. Der innerfamiliäre Generationenvertrag stösst an Grenzen, Überlastung und Stress sind die Folge – vor allem für die Töchter. Kein Wunder: Betreuung gilt nach wie vor als typische Frauenarbeit und nicht als eigenständige Leistung. Deshalb werden diese Tätigkeiten zu wenig honoriert, obwohl anerkannt ist, dass diese gemacht werden müssen. Diese und andere Faktoren haben den Arbeitsmarkt für Care-Migrantinnen im Privathaushalt geöffnet – leider nicht selten zu prekären Arbeitsbedingungen. Arbeitslosigkeit und hohe Lebenskosten sind weitere Ursachen für die Migration von Pflege- und Betreuungspersonal. Care-Migration muss in diesen Zusammenhängen gesehen werden und darf deshalb in der zukünftigen Diskussion rund um Betreuung nicht fehlen. Der Handlungsbedarf, welcher durch die Studie aufzeigt wird, stellt sich genauso für die Arbeit von Care-Migrantinnen.

Wo liegen die aktuellen Herausforderungen im Betreuungsbereich?
Die Herausforderungen sind vielfältig. Zentrale Fragen stellen sich nach der Rolle der Betreuung und ihrer zukünftigen Finanzierung. Betreuung muss aus unserer Sicht für alle bezahlbar sein und gehört zur sozialen und gesundheitlichen Grundversorgung. Umsetzungsmassnahmen brauchen eine integrative Gestaltung in der ambulanten, intermediären und stationären Versorgung. Sie erfordern ausserdem in der Regel ein zivilgesellschaftliches und professionelles Engagement. Aus Sicht der Betroffenen besteht ein Bedarf nach einem einfachen Zugang zu den notwendigen Unterstützungsleistungen und einer professionellen Beratung zu Fragen der Hilfe und Betreuung – möglichst aus einer Hand. Natürlich stehen noch weitere Faktoren, u.a. die Arbeitsbedingungen, Unterstützung, Ausbildung und Kontrolle der Care Arbeit zur Diskussion.

Was braucht es, damit in der Schweiz gute Betreuung im Alter gewährleistet werden kann – für alle?
Die Studie von Prof. Carlo Knöpfel weist auf sieben alterspolitische Forderungen hin:

  • Betreuung als Anrecht gesetzlich verankern
  • Betreuung als integratives Versorgungsmodell organisieren
  • Betreuung für alle bezahlbar machen
  • Betreuung als Teilhabe an der Gesellschaft gestalten
  • Betreuung zwischen Professionalität und Anerkennung positionieren
  • Betreuung als Alltags- und Beziehungsarbeit verstehen
  • Betreuung als Präventionsleistung fördern – ambulant und stationär

Die Rahmenbedingungen für die Betreuung von Betagten haben sich verändert und werden sich weiter verändern. Deshalb will die Paul Schiller Stiftung die Betreuung in Zukunft verstärkt in den Mittelpunkt der gesundheits- und sozialpolitischen Diskussion rücken: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir in der Schweiz in Würde alt werden können. Es braucht Strukturen und Rahmenbedingungen, die eine gute Betreuung ermöglichen.

Das Interview mit Maja Nagel Dettling wurde schriftlich geführt.



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